Hildegard - Deutsch

93 Kapitel 12 Bund Deutscher Mädel Bei einer späteren Gelegenheit sagte Hildegard. „Ich möchte Ihnen etwas erzählen, was ich während meiner Zeit beim BDM (dem Nazi- Pfadfinderbund) erlebt habe. Wie andere Mädchen hatte ich angefangen, nach Jungen zu suchen. Wie Sie wissen, habe ich vor der Flucht nie einen Jungen kennengelernt. Wir haben über Jungs gesprochen, aber wir hatten z.B. keine Übungen etc. mit der Jungen- organisation. Manchmal trafen wir uns zu großen Kundgebungen. Nur einmal habe ich in Nürnberg teilgenommen. Wir lebten in Lagern für Mädchen. Es war ein ganz tolles Erlebnis und wir haben die Einheit besonders stark gespürt, als wir zu vielen, vielen Tausenden zusammen dort standen. Was mich sehr überraschte, war, dass eines der älteren Mädchen, ihr Name war übrigens Rosemarie, mir erzählte, dass der Kontakt mit Jungen außerhalb der Ehe erlaubt sei. In der Schule hatte man uns immer gesagt, dass die Ehe das einzig Richtige für echte deutsche Familien sei. Wir wussten auch sehr gut, dass kinderreiche Familien je nach Kinderzahl Prämien erhalten. In einem der Doppelhäuser an der Straße lebte ein Paar, das keine Kinder hatte. Ich habe meine Mutter einmal gefragt, wie das sein könnte. Sie antwortete ausweichend, sagte dann aber etwas darüber, dass sie einige Kinder adop- tieren wollten, die ihre Eltern verloren hatten. Aber es kamen nie Kinder. Mein Bruder, der für einen kurzen Urlaub zu Hause war, sagte, er kenne den Mann aus seiner Zeit in der Hitlerjugend. Erwin sagte, der Mann sei ein sehr aktiver Nazi gewesen und habe einen Großteil seines Gehalts an die Partei gespendet, auch weil sie keine Kinder bekommen könne. Mein Bruder sagte, wenn man Deutschland mit den Kindern nicht helfen könne, müsse man stattdessen auf andere Weise helfen. Es erinnerte mich daran, dass mein Vater und meine Mutter mitten im Krieg, als es an der Ostfront nicht so gut lief, ihre besten Wintermäntel für eine Spendenaktion spende- ten. Es hieß, unsere Soldaten froren, weil es viel kälter geworden sei als erwartet, ob- wohl sie natürlich Winteruniformen trugen. Meine Mutter hatte der Sammlung auch einen alten Mantel geschenkt. Es habe nicht viel gebracht, sagte meine Mutter. Es war nicht so modern wie aus der Zeit meiner Großmutter. Schlimmer noch mit den Winter- mänteln, die wir hätten gebrauchen können, als wir Anfang 1945 aus der Stadt fliehen mussten. Zurück zu dem, was Rosemarie gesagt hat. Außerhalb der Stadt befand sich ein großes Ausbildungslager für die SS. (Die SS oder SchutzStaffel war ein Nazi-Korps, das ur- sprünglich Hitlers Leibwache diente, später aber auch zu einem mächtigen und stark militarisierten ideologischen Elitekorps wurde.)

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